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Der marode Zustand der Schulen ist eine Chance

In den nächsten Jahren wird in Deutschland viel Geld für Investitionen in die marode Infrastruktur fließen. Für die Schulen haben nach Hamburg auch die Länder NRW und Berlin Mittel in Milliardenhöhe bereitgestellt. Andere Länder werden folgen, mindestens die bisher zugesagten Finanzhilfen des Bundes werden investiert werden.

Neben der Beseitigung der Schäden wird es auch darum gehen müssen, die Mittel klug einzusetzen: Für unseren heutigen Experten haben räumliche Rahmenbedingungen Vorrang, die dazu beitragen, den Unterricht zu verbessern. Mit einer technischen Sanierung, sagt Otto Seydel, muss auch eine pädagogische Erneuerung einhergehen.

Trivial ist das keineswegs, wie der Schulbauberater anhand innovativer Beispiele aus England und Kanada zeigt. Lehrerinnen, die bisher in "Schuhkartonklassen" arbeiteten, machten zunächst Unterricht "gegen den Raum", weil sie erst lernen mussten mit den neuen Methoden und Möglichkeiten umzugehen. Wer also Räume für das Lernen der Zukunft plant, muss Aus- und Weiterbildung für Lehrkräfte genauso in die Kalkulation einbeziehen wie eine fundierte Prozessbegleitung sowie die interdisziplinäre Forschung zur Schulentwicklung und ihrer Evaluation.

 

Otto Seydel

Der marode Zustand der Schulen ist eine Chance – allerdings nur dann, wenn die kommenden „technischen“ Sanierungen (von kaputten Toiletten bis zu undichten Flachdächern) mit der „pädagogischen Sanierung“ einhergehen. Die Pädagogik zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich in einem fundamentalen Wandel:

  • Vom „Lernen im Gleichschritt“ zu einem Unterricht, der jedem Einzelnen gerecht wird.
  • Von Tafel und Kreide zu Laptop und WLan
  • Von der Halbtags- zur Ganztagsschule.
  • Vom gegliederten Schulsystem zur inklusiven Schule.
  • Von der „belehrenden“ zur „lernenden“ Schule.
  • ...

Die klassische Flurschule mit ihren engen „Schuhkartonklassen“ taugt für diese pädagogischen Anforderungen, die heute mit Recht gestellt werden, nicht mehr. In den vergangenen 150 Jahren sind Schulen gebaut worden, die optimiert waren für den Frontalunterricht: Der Lehrer steht vor der Klasse und die Schüler arbeiten still an ihren Plätzen - oder sollten dies  wenigstens tun. Sammeln, Abschreiben und Nachsagen bestimmen den Unterricht. Heute geht es vielmehr darum, dass Kinder sich eigenständig Informationen beschaffen, sie für Problemlösungen nutzen, ihre Informationen kritisch hinterfragen und verständlich weitergeben. Schüleraktiver Unterricht mit allen Sinnen erfordert ein breites Methodenspektrum, das sehr unterschiedlichen Lernbiografien der einzelnen Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann.  Es wird allein gelernt, zu zweit, in der Kleingruppe oder auch im Klassenverband. Das Kerngeschäft der Schule ist der Unterricht. Räumliche Rahmenbedingungen, die die Unterrichtsqualität verbessern helfen, haben – nach der Sicherung der elementaren technischen Qualität (Licht, Luft, Lautstärke) - allererste Priorität. Hohe Flexibilität und Variantenreichtum beim Einsatz unterschiedlicher Unterrichtsmethoden und Sozialformen gehören zum Pflichtprogramm guten Unterrichts. Der pädagogische Handlungsspielraum steigt dafür massiv, wenn ausreichend Fläche und Differenzierungsoptionen  zur Verfügung stehen.  Für diese – zwingend variantenreichen -  Lernformen aber sind zwei Quadratmeter Fläche pro Schüler in einem konventionellen Klassenraum schlicht ungeeignet. Die notwendige räumliche Konsequenz aus dem Wandel der pädagogischen Anforderungen: Mehr Fläche und mehr Flexibilität.

Wenn eine Schule nicht nur technisch, sondern auch in ihrer pädagogischen Funktionalität saniert werden muss, geht es in der Regel darum, auf einem Minimum an Fläche, ein Maximum an Flexibilität zu erreichen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten zum Beispiel Verkehrswege wie Flure genutzt werden können. Auch das Thema Transparenz ist bedeutsam. Arbeiten zum Beispiel einige Schüler allein, zu zweit oder in der Kleingruppe im Flur oder im angrenzenden Gruppenraum, müssen breitere Flächen verglast werden, damit der Lehrer einen Blickkontakt halten kann. Eine weitere moderne Lösungsvariante sind z.B. sogenannte Cluster: Drei bis sechs Kassenräume werden zusammen mit kleinen Gruppenräumen, einem Lehrerstützpunkt und Sanitäranlage zu räumlichen Funktionseinheiten zusammengefasst. Entscheidend dabei ist: In der Mitte entsteht ein gemeinsamer „Marktplatz“, der vielfältig genutzt werden kann. Dafür muss es nicht unbedingt einen Neubau geben, Cluster lassen sich durch geschickte Planungen mit einfachen Mitteln auch im Bestand verwirklichen. Ganz mutige Schulen gehen noch weiter: Mit der Sanierung werden Wände weiträumig ganz oder teilweise entfernt, es entstehen gegliederte Flächen, ähnlich einem Großraumbüro. Vereinfacht gesagt, lassen sich im modernen Schulbau diese drei Typen unterscheiden:

(1) die deutliche Vergrößerung des bekannten Klassenraums, z.B. durch einen Gruppenraum, der zwischen zwei Klassen liegt und den sich diese beiden Klassen teilen;
(2) die Zusammenfassung von drei bis maximal sechs Klassen und weiteren Funktionsräumen zu einem Cluster mit einer gemeinsam genutzten „Mitte“;
(3) die Auflösung des Klassenraumprinzips in eine „offene Lernlandschaft“

In England und Australien hat es in jüngster Zeit intensive wissenschaftliche Untersuchungen gegeben, wie neue räumliche Konzepte im Schulbau von den Lehrern angenommen werden und welche Details zukünftig weiter optimiert werden sollten (solche belastbaren Prüfungen stecken in Deutschland leider erst in den Anfängen!). Im Blick auf die Optimierungsfrage war ein Ergebnis der englischen Untersuchungen voraussehbar: Je offener die Raumkonzepte sind, desto stärker muss die Akustik optimiert werden – andernfalls sind die Lernbedingungen insgesamt schlechter als vorher.

Ein zweites Ergebnis mag auf den ersten Blick erstaunlich sein. Es gab eine Reihe von Schulen, in denen die pädagogischen Potenziale, die die neuen Räume bereitstellen, gar nicht genutzt wurden. Während in der Vergangenheit innovative Lehrer gleichsam „gegen den Raum“ unterrichten mussten, um die geforderten variantenreichen Unterrichtsmethoden zumindest in Ansätzen verwirklichen zu können, drehte sich jetzt die Frontstellung um. Lehrer, die Jahrzehnte lang Unterrichtsroutinen gefestigt hatten, die den zu engen räumlichen Bedingungen geschuldet waren, hatten große Schwierigkeiten, die neuen Freiheiten überhaupt zu nutzen. Die Ergebnisse aus Australien (wo in den letzten Jahren wunderbare neue Schulen gebaut wurden): Lehrer versuchten wiederum – diesmal mit alten Methoden – „gegen“ den neuen Raum zu unterrichten.

Nun darf der Leser darüber auf keinen Fall vorschnell den Stab brechen und in billige „Lehrerschelte“ verfallen. Denn ohne den Aufbau stabiler Routinen ist der Lehrerberuf nämlich nicht zu schaffen. Auch Lehrer brauchen Zeit, umzulernen. Die Konsequenz muss darum lauten: Die Aus- und vor allem die Fortbildung für Lehrer muss aktiv das Thema „Pädagogik und Raum“ in ihr Pflichtprogramm aufnehmen. Dafür braucht es hochwertiges filmisches Schulungsmaterial, Hospitationsprogramme an Pilotschulen, Strategien zur kollegialen Unterrichtsreflexion in den neuen Räumen, u.v.a. Schulbau ist sowohl während der Planungsphase eines Um- oder Neubaus, vor allem aber auch in der Aneignungsphase immer auf ein Thema der inneren Schul- und Unterrichtsentwicklung.

Dafür sind auch die wissenschaftlichen Einrichtungen gefordert: In Deutschland muss sich ein interdisziplinärer Forschungszweig mit Architekten, Psychologen und Pädagogen etablieren, der dazu taugt, Schulen zu begleiten, die sich in neuen Raumkonzepten wiederfinden, und zugleich belastbare Ergebnisse liefert, um zukünftige Schulbauten weiter zu verbessern, statt unerkannte Irrwege auf Jahrzehnte zu fixieren. Wir brauchen in Deutschland nicht nur eine systematische Evaluation der pädagogischen Arbeit an einer Schule, sondern auch eine Evaluation ihrer Bauten, und zwar gerade der neuen, die äußerlich nicht mehr marode sind. Diese Forderung wird für Schüler und Lehrer, die gegenwärtig unter unzumutbaren Bedingungen lernen und arbeiten müssen, vielleicht wie Hohn klingen, weil sie als allererste sicherstellen müssen, dass die Toilette funktioniert und es nicht mehr durch die Decke tropft. Aber angesichts der (mindestens) 34 Milliarden Euro, die in den nächsten Jahren in den Schulbau investiert werden (müssen), ist es eine allemal notwendige Forderung, dass mit einer technischen Sanierung die pädagogische Sanierung einhergehen muss und dass dabei - zumindest für die folgenden Baumaßnahmen an anderer Stelle  – sehr genau geprüft wird, ob das, was neu gemacht wird, auch wirklich sinnvoll ist.

Otto Seydel

Dr. Otto Seydel gründete im Jahr 2001 nach 26-jähriger Tätigkeit als Lehrer und Mitglied der Schulleitung in der Schule Schloss Salem das Institut für Schulentwicklung in Überlingen. Das Institut war maßgeblich beteiligt bei der Entwicklung des Deutschen Schulpreises der Robert Bosch Stiftung (Stuttgart) und vom Land Bremen betraut mit der Leitung der dortigen externen Schulinspektion. Seit 2010 wurden die Aktivitäten des Instituts fokussiert auf das Themenfeld Schulbau. Er ist Mitglied der Expertengruppe „Schulen planen und bauen" der Montag Stiftung (Bonn) und in der Forschungsgruppe „ Stadt - Raum  – Bildung“ der Universitäten Heidelberg und Stuttgart. Im Auftrag des Kultusministeriums erarbeitete sein Institut eine Expertise „Empfehlungen für einen zukunftsfähigen Schulbau in Baden-Württemberg“. Arbeitsschwerpunkt ist die Beratung von Schulen und Schulträgern in Deutschland und im Ausland, die einen Um– oder Neubau planen. Otto Seydel ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema „Schulbau“.
www.schulentwicklung-net.de

 

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